Nila am 24. Juli 2020 —

Gemeinsam altern: Mein Körper und ich

Ein literarischer Gastbeitrag über ein ganzes langes Leben von Nila Sebastian.

Nila

Auf die Welt kommen

Es ist schon über 84 Jahre her, dass du an einem kalten Freitagabend im Februar unsanft mit einer Zange in die Welt gezogen wurdest, nachdem du stundenlang vergeblich versucht hast, dich durch den Geburtskanal zu zwängen. Warst du auch narkotisiert wie deine Mutter? War die Geschwulst an deinem Kopf schon da, bevor er in die Zange genommen wurde?

Der Arzt fasst dich kopfunter an den Füßen, schlägt dich leicht auf den kleinen Po. Ein Schrei, dann ringst du nach Luft. Die Mutter auf dem Küchentisch wird mit leichten Schlägen aus der Narkose geholt. Das erste Bad steht schon bereit. Die üblichen Verrichtungen der Hebamme. Die Kleine liegt angezogen und gewindelt im Weidenkörbchen unter dem Himmel und nuckelt am Däumchen.

Du wirst abgeschoben ins Esszimmer wo der Kanonenofen Wärme ausstrahlt und wirst allein gelassen. Jede Nacht, bis die alte Nachbarin deiner Mutter er erzählt , dass sie dich jede Nacht weinen hört. Du warst ein Säugling mit Hunger und Durst, brauchtest Hautkontakt, deine Bedürfnisse mussten erfüllt werden, damit die Seele keinen Schaden litt. Du äußertest Unmut, wenn dich Blähungen plagten oder die Windel nass war. Mutti erzählte, dass ihre Brustwarzen vom Stillen wund wurden und sie deshalb ihre Brust zurückzog. Papa schimpfte: sie verdiene gar kein Kind. Hast du die angespannte Stimmung gespürt?

Im Lauf des ersten Jahres bekamst du immer mehr von der Welt mit. Wir waren eins. Als ich laufen lernte, waren wir auf Kriegsfuß, besser auf Senkfüßen, weil ich immer umfiel. Oft auf den Hinterkopf. Damals merkte ich, dass du mein Körper bist, der sich fremd anfühlte und mir nicht immer gehorchte. Als du – von der kleinen Schwester aus dem Babykorb vertrieben – abends weintest, weil sich das Gitterbett so riesig anfühlte spürtest du die harten Hände deines Papas schmerzlich auf deinem kleinen Po. Danach trautest du dich nie mehr laut zu weinen.

Kind sein

Wir wurden größer und älter. Oft fühltest du dich ungeschickt und steif. Ungelenke Buchstaben auf die Schiefertafel. Schläge mit dem Stiftkastendeckel auf die rechte Hand. Bis die Lehrerin Einsicht hatte: Klug, aber eine schreckliche Handschrift.

Im Turnunterricht wusstest du nicht, wie du Arme und Beine richtig bewegen solltest. Noch heute gehorchst du meinen Befehlen nicht immer und ich verwechsle rechts und links. Doch du fühltest dich nie wie ein zu kleines oder zu großes Kleid an, warst nie ein Gefängnis. Es fühlte sich gut an, wenn du und deine Schwester sich im Bett gegenseitig gekitzeltem, wenn jemand deine Wangen streichelte oder den Rücken. Von Mutti gab es nur einen Gute-Nacht-Kuss. Wenn du eine Krankheit ausschwitzen musstest, wischte sie dir die nasse Stirn ab. Zwischen den Beinen fühlte es sich anders an als am übrigen Körper.

Neugierig sahst du den Körper deines kleinen Bruders, der anderen Kinder und der Erwachsen an und verglichst. Nach den Nächten im April 1945 auf der Matratze auf dem kalten Kellerboden war jeden Morgen dein Bett nass und du schämtest dich. Wie lange es dauerte, bis endlich das Bett trocken blieb, weiß ich nicht mehr.

Fieber, Erkältungen, vereiterte Mandeln, Sonnenbrand, beißende Kälte, blaue Flecken, aufgeschlagene Knie, Kratzer, Schnittwunden, Übelkeit, Erbrechen, all das bereitete dir Unbehagen. Du fühltest dich nicht ganz. Die Schmerzen nach der Mandeloperation waren höllisch und kaum auszuhalten.

Frau werden…

Dann wuchsen unter den Brustwarzen kleine Erhebungen. Verschwanden wieder. Die Mangelernährung zwischen 1945 und 1949.; sich nur ab und zu satt essen können. Es dauerte Jahre, bis du zur Frau wurdest. Doch warum musste es alle vier Wochen so weh tun? Und das viele Blut, das mit Stoffbinden aufgefangen wurde, die gewaschen und auf die Leine gehängt, die Erwachsenen und vor allem die Männer zu spöttischen Bemerkungen verleiteten?

Tanzen war Sünde. Bis du dich im Tanz zur Musik bewegen konnte, dauerte es ewig bis der Kopf ausgeschaltet war. Kein Mauerblümchen mehr. Nur fliegen war schöner. Warum wollten die jungen Männer etwas von dir? Mutti meinte: Das Schlimme ist, dass es bei den Männern nie aufhört. Bis du 23 Jahre alt warst, war das Gärtlein noch von einem Zaun geschützt. Du schenktest mir schöne Empfindungen und Gefühle, wenn ich große Freude spürte oder mich selbst streichelte.

…und Mutter

Dann kam Horst, der Mann, der mich heiraten wollte. Ich wurde schwanger und du verändertest dich, von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, bis neun Monate vorbei waren. Der Geburt warst du ausgeliefert, als das Kind aus deinem Körper drängte. Die Brüste waren größer geworden. Aus ihnen spritzte Milch. Der Schnitt, die Wunde, die Naht. Schmerzen, du musstest viel ertragen, bis alles verheilt war. Die schwere Nähmaschine mit der Schwiegermutter die Treppe hoch tragen. Ein starker Schmerz – die Mutterbänder sind überdehnt. Kreuzschmerzen – einen Ring tragen – Operation – zwei Schnitte am Venushügel.

Ein zweites Kind. Schwangerschaft. Die feine Energie rings um das werdende Leben. Die Geburt. Ohne Schnitt. Das Steißbein schmerzt beim Sitzen. Ausgerenkt vom Hinterkopf des Sohnes. Kreuzschmerzen, Ischias. Die Schmerzen zeigten, dass etwas klemmt. Und trotzdem fühlst du immer wieder die Ekstase.

Jahre später eine Abtreibung. Sterilisation. Der Arzt machte eine Minisektio. Einen Bauchschnitt. Dir blieb eine verunstaltende Narbe. Keine Hormonpillen mehr einnehmen. Dir ohne Angst die sexuellen Bedürfnisse erfüllen können.

Ein Mann fürs Leben

Habe ich dir auf der Suche nach dem Einen zu viel zugemutet? Die Zahl der Bettgenossen ist zweistellig. Ein neuer Mann. Ein Mann fürs Leben? Er hat einen schönen Körper. Ein Streichler. Auch du bist schön, die Haut ist so geschmeidig. Himmlisch, die Berührungen. Darauf könntest du schwerer verzichten als auf die körperliche Vereinigung. Rein – raus? Zusammensein, ineinander übergehen. Eure Körper lieben sich. Bis heute. Er liebt meine üppigen Brüste, die Horst geringschätzig Omabusen genannt hatte.

Wenn wir im Urlaub auf die hohen Berge stiegen, wurden dir Höchstleistungen abverlangt. Du magst es und genießt. Auf dem Gipfel durchströmen dich Freude, Glücksgefühle und Energie. Nach Jahren sind fast alle Gipfel, die wir sehen, wenn wir wieder einmal oben angelangt sind, erstiegen. Eine weitere Herausforderung ist: Nicht nur Bergsteigen, sondern klettern. Am Seil gesichert. Die Höhenangst, durch die Wohnung im Hochhaus verursacht, ist fast ganz verschwunden.

Den Körper annehmen

Dich nackt zu zeigen, fiel lange schwer. Manchmal lief ich im Traum nackt draußen herum. Doch seit wir auf den griechischen Inseln nackt gebadet und am Strand lagen, schäme ich mich deiner nicht mehr. Dich richtig anzunehmen lernte ich in den Tantraworkshops. Da legte ich im Kreis von drei oder vier Umsitzenden die Kleidung ab. Nackt in der Mitte, erzählte ich, was mir alles an dir nicht gefiel und mir seelische Schmerzen bereitete. Danach sagte jede/r, was sie oder er an dir schön fand. Eine Wunschberührung. Das tat gut.

Feldenkrais – Übungen und Behandlungen – tun dir gut. Bewusst bewegen. Endlich mit dir eins sein. Früher habe ich mir oft die Knie aufgeschlagen, zweimal den Ellbogen gebrochen. Jetzt sind wir im Einklang. Wenn ich falle, lässt du mich nicht in Stich. Tote Zähne hast du mir schon 1964 beschert. 1970 fiel ich vom Fahrrad, weil der Dynamo in die Speichen geriet. Wieder mussten Zähne daran glauben. Die Zahnprothese hat mich schon viel Geld gekostet. Du brauchtest schon früh eine Brille. Kurzsichtig, alterssichtig, weitsichtig. Aber immer noch sind die Augen strahlend blau. Immer noch bekommst du Komplimente. Dass die Zahlen und Buchstaben so klein sind, dafür kannst du nichts.

Der Körper altert

Erste Schweißausbrüche: Vorboten des Klimakteriums: Dann: Hurra, endlich Feuerfrau, die große Freiheit! Doch allmählich: Hoher Blutdruck, Herzrasen, mit Blaulicht ins Krankenhaus. Du liebst mich nicht mehr. Ich zürne dir. Schlaflosigkeit, Wesensveränderungen. Ich schleppe dich durch den Tag und versuche vergebens, dich nachts zur Ruhe zu bringen. Hormone. Wieder jeden Monat Blutzoll zahlen. Du gehst auseinander. Die Waage zeigte immer mehr Kilos an. Mit Zigaretten gequält habe ich dich nie. Aber immer wieder auf Trab gebracht mit Bohnenkaffee. Abends das Glas Wein schadet nicht. Die Blutwerte sind wieder einwandfrei, seit der Herzschlag nicht mehr mit Betablockern gebremst wird.

Und du, mein Herz, machst dich seit der Diphtherie 1950 immer wieder bemerkbar. Machtest mich arbeitsunfähig, hast dich immer wieder erholt, hast Jahrzehnte durchgehalten, wenn es auf die Berge ging, bis über 3000 Meter. In den Wechseljahren gerietst du öfter ins Rasen, bis die anfällige dritte Reizleitung stillgelegt wurde.

Dankbarkeit

Meine weißen Haare stehen mir. Ich färbe sie nicht mehr und verschone dich von dieser Prozedur. Mein Liebster berührt dich immer noch gerne, lustvoll und liebevoll. Und bei der Liebe entdecke ich dich immer neu. Du zeigst dich nie gleich. Immer anders. Die Liebe des Liebsten erhält dich schön. Du verlangst, dass ich dich liebevoll behandle. Deiner gewahr bin. Denn die Jahre gehen nicht spurlos vorüber. Die Haut an den Armen ist voller feiner Falten. Seit 2017 ein Knalltrauma eine Fenstermembran zerrissen hat, brauchst du Hörgeräte. Doch jeden Abend Musik. Oft schmerzt du mich an den Knien, am Rücken, in den Armen, in den Fingern. Ich kann nicht mehr so weit laufen wie früher, zwei gebrochene Wirbel und ein Wirbelkanalstenose. Trotzdem hast du mich nie in Stich gelassen. Dafür danke ich dir.

Wenn einmal das Herz stehen bleibt, das Bewusstsein entschwindet, bist du dann auch verschlissen wie ein oft gewaschenes Hemd oder darf ich dich unversehrt der Erde anvertrauen? Wirst du mich bis dahin unterstützen, so wie ich dich unterstütze, ehre und liebe?

***

Die Autorin:

Nila Sebastian ist 1936 geboren, sie hat zwei Söhne und zwei Enkel. Immer schon hat sie viel geschrieben, über ihr Leben, die Liebe, Tantra und viele andere spannende Themen. Eine Auswahl ihrer Artikel findet Ihr im Magazin SEIN, wo sie viele Jahre lang mitgearbeitet hat.

Mehr über ihr Leben auf Memoro und im Biografieforum

Teile diesen Beitrag, wenn er Dir gefallen hat!