Um halb drei nachmittags betrete ich das Pflegeheim, das erste, das ich von innen sehe. Ich besuche Frau M., die Verwandte eines lieben Freundes, die hier seit einigen Wochen lebt, nachdem sie im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt nicht mehr zurück in ihre Wohnung konnte. Das Pflegeheim macht einen sauberen Eindruck, im Eingangsbereich tönt leise Musik aus einem Radio – und so sieht es da aus:
Das Haus wirkt von der Einrichtung und den Räumlichkeiten her wie ein Krankenhaus mit etwas mehr Deko. Und mehr Ruhe, trotz der Musik. Vor dem weiteren Vordringen in das ziemlich unbelebt wirkende Gebäude dsinfiziere ich mir die Hände am dafür vorgesehenen Spender. An der Wand ein Schild: „Wir freuen uns auf Ihre Meinung!“ und Formulare zum Ausfüllen.
Die Zimmer der Bewohner gehen von einem elend langen Gang ab, der den Krankenhaus-Eindruck verstärkt. Spärlich verteilte Bilder an den Wänden, ein Handlauf zum Aufstützen, kein Mensch ist zu sehen. Aber halt: als ich weiter gehen will, tritt mir eine resolut wirkende Pflegekraft entgegen und schaut mich fragend an. Ich erläutere kurz, wen ich besuchen will und darf weiter gehen. An einer der vielen Türen steht „Hier wohnt Frau M.“.
Ihr Zimmer ist größer als ich gedacht hätte, vermutlich um die 20 Quadratmeter. Es sieht ebenfalls aus wie ein Krankenhaus-Zimmer und ist nur spärlich möbliert. Wenig gemütlich, trotz der paar Bilder an den Wänden, die Verwandte aufgehangen haben. Das liegt nicht allein am Pflegeheim, wie ich weiß. Frau M. zeigt kein Interesse, sich den Aufenthalt angenehmer zu machen, denn eigentlich will sie gar nicht hier sein. Jede Verschönerung wäre ja gleichzeitig ein Akzeptieren dessen, was ist, doch Frau M. ist dazu nicht bereit.
Ein Lichtblick ist der große Balkon mit Ausblick auf eine große, jetzt schon grüne Kastanie. Ein Blumenstrauss, den Freunde mitbrachten, steht hier in einer Vase, auch im Zimmer selbst sind mehrere Blumentöpfe und Sträuße verteilt, liebevolle Mitbringsel, die Frau M. ja nicht ablehnen kann.
Die Leiden der Frau M.
Sie bietet mir Käsekuchen an, den es zum Nachmittagskaffee gegeben hat. Der schmeckt gar nicht mal schlecht, sogar Sahne ist drauf. Ich esse den Kuchen während Frau M. mir empört erzählt, wie schlimm es ihr hier ergehe. Man nehme ihr alles weg, nicht mal eine Tasse dürfe sie behalten. Es fehlten Kleidungsstücke, die einfach verschwunden seien, vermutlich geklaut. Sie habe schmerzende Wunden, doch kein Arzt kümmere sich darum. Pfleger, die Verbände wechseln, gingen nicht achtsam, sondern rüde mit ihr um. Auch helfe ihr niemand beim anstrengenden Umziehen, was aus Gründen manchmal mehrfach nötig sei. Wenn sie um etwas bitte, werde genickt oder versprochen, es irgendwelchen Zuständigen weiter zu sagen, aber es ändere sich nichts, niemand kümmere sich.
Und die Mitbewohner? Die lästerten hinter ihrem Rücken über sie, nur mit ganz ganz wenigen könne sie mal reden. Viele säßen einzeln herum und starrten nur missgelaunt vor sich hin.
Ich empfinde Mitgefühl angesichts von soviel Elend, doch vermute ich auch, dass Frau M. selbst nicht gerade zur guten Laune beiträgt, vorsichtig gesagt. Sie meidet Gruppen und Freundeskreise, die es in diesem Heim doch auch zu geben scheint, denkt von allen Anderen nur schlecht und grenzt sich damit selber aus.
Die Resolute vom Eingang betritt auf einmal das Zimmer, grüßt kurz und schaut suchend um sich. In der Ablage des Tischchens neben dem Bett entdeckt sie eine Tasse, sammelt diese ein und will sie mitmehmen. Frau M. protestiert, sie brauche den Rest Milch wegen ihrer Schluckbeschwerden, doch die Pflegekraft weißt darauf hin, dass der Inhalt der Tasse doch schon alt und vergammelt sei. Sie lässt sich nicht erweichen und nimmt die Tasse mit. Meine Bitte, doch ersatzweise ein Glas Milch zu bringen, wird ignoriert. Ich nehme mir vor, das nächste Mal Milchfläschchen mit Drehverschluss mitzubringen, denn das mit den Schluckbeschwerden ist echt: Es kommen ihr zwischenzeitlich die Tränen vor Schmerzen. Allerdings muss ich dann auch einen Öffner besorgen, mit dem man den Drehveschluss ohne Krafteinsatz aufbekommt, denn Frau M. schafft das auch bei einer Wasserflasche nicht mehr alleine.
Vier Kaninchen und ein Park
Nach etwa zwei Stunden verabschiede ich mich. Im Aufzug treffe ich auf rollstuhlfahrende Mitbewohnerinnen, die freundlich und heiter grüßen und scherzen. Jedes Stockwerk hat einen Straßennamen aus der Umgebung, der sofort ins Auge fällt, wenn man den Aufzug verlässt. Eine gute Idee für die bessere Orientierung von Menschen, die sich nicht mehr viel merken können.
Auch sonst hält die Ausstattung des Heims einige Annehmlichkeiten bereit. Ein ganzes Zimmer, das von einem der Flure abgeht, wird von vier Kaninchen bewohnt, die in einem Stall mit zwei großen Nesthäuschen und Freilaufstall leben. Der Streichelzoo des Pflegeheims!
Hinter dem Gebäude liegt zudem ein kleiner Park, groß genug, um ihn langsamen Schrittes in einer halben Stunde zu durchwandern. Große Bäume, Bänke, Sitzgruppen – die Grünbereiche sind gärtnerisch gepflegt und abwechslungsreich bepflanzt. Da gibt es nichts zu meckern, ich wäre froh, ich hätte sowas im Hinterhof meines Mietshauses!
Direkt vor dem Haus gibt es sogar ein Hochbeet, das ansatzweise mit Petersilie und Radieschen bepflanzt ist. Hier können Bewohner/innen offenbar gärtnern ohne sich bücken zu müssen. Der Park ist allerdings grade menschenleer, doch soll das bei besserem Wetter anders sein, wie mir Verwandte von Frau M. erzählten.
Was ich bei diesem Besuch im Pflegeheim lernte
Die Chance, einmal selbst in so einem Pflegeheim zu landen, ist ja gar nicht so klein, insbesondere für Menschen ohne eigene Familie. Der kurze Einblick hat mir immerhin ein paar Eindrücke vermittelt, wenn ich auch annehme, dass es da noch viele Unbekannte gibt, die ich so nicht mitbekomme. Wie berechtigt z.B. all die Klagen und Beschwerden von Frau M. sind, kann ich im Einzelnen nicht beurteilen. Sie ist deutlich über 90, nurmehr ein Strich in der Landschaft, und sie hat über die Jahre vielerlei ernste Krankheiten und weitere Zipperlein „angesammelt“, an denen sie nun leidet. Alter, Krankheit und Tod, die Skandale des Menschseins, sie treffen uns alle irgendwann und lassen sich einfach nicht vermeiden. Was wir aber beeinflussen können, ist die eigene Haltung zum Verfall und wie wir uns zur Außenwelt hin verhalten. Wer über 50 ist weiß bereits, dass es nicht mehr so einfach ist, neue Freunde zu finden. Das liegt daran, dass die Ansprüche steigen und die Schubladen im eigenen Geiste immer mehr werden: Es gibt immer mehr Gründe, andere Menschen dumm, blöde und unsympathisch zu finden, was dann bei vielen Hochbetagten dazu führen kann, dass sie irgendwann „nurmehr missgelaunt alleine herum sitzen und vor sich hin starren“.
Ich nehme aus dieser Erfahrung mit: so werde ich mich nicht verhalten! Ich werde, wenn ich eines Tages im Pflegeheim lande, ganz im Gegenteil mit XYZ die Oldies der 60ger, 70ger und 80ger trällern und gute Laune schieben, wo immer es geht. Hoffentlich ist bis dahin Cannabis legalisiert, denn das hilft nicht nur gegen Schmerzen, sondern auch gegen sozialphobische Anwandlungen: Am Morgen ein Joint und der Mitmensch ist dein Freund – im Pflegeheim wär das sicher hilfreich!
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Erstveröffentlicht im Digital Diary.
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4 Kommentare zu „Ein lehrreicher Erstbesuch im Pflegeheim“.