Vielleicht mag auch hier der Wohlhabende einen größeren Entscheidungsspielraum haben als der normal „Sterbliche“. Das Ehepaar Brauchitsch konnte es sich jedenfalls leisten, wie die Tochter seinerzeit erklärte, zum für sie „geeigneten“ Zeitpunkt zu gehen, nämlich im September 2010.
Und ich?
1983 wechselte ich in die Selbstständigkeit. Nach Jahren des Aufbaus begann ich, für meine spätere Rente einzuzahlen. Zu dieser Zeit waren, wie für alle, die keinen Bock auf komplizierte Konstrukte hatten, die bevorzugten Modelle Lebensversicherungen. Ein großer Nachteil dieser Rentenmodelle für Selbstständige ist, das sie „beliehen“ werden können, was in sich schon ein Systemfehler ist. Denn genau diese Zielgruppe ist oft von einer stark schwankenden Liquidtität betroffen war und nicht immer stehen die Banken Gewehr bei Fuß, solche Phasen zu überbrücken. Nun, irgendwann war diese Rente also fort, was mir seinerzeit aber auch keine schlaflosen Nächte einbrachte.
Statistisch war es für mich als Raucher, Vielfahrer und Workaholiker sowieso eher unwahrscheinlich, jemals in den Genuss dieser Ansparung zu kommen. Überzeugt war ich davon, das es mir immer irgendwie gelingen würde, durchzukommen. Und sollte es dann eines Tages doch nicht mehr gehen, so würde ich mich dieser Situation neu stellen. Muss man unbedingt 81 und todkrank sein, wie das Ehepaar Brauchitsch, um sich dann für neue Wege zu entscheiden?
Warum wird man gezwungen, sich vom Hochhaus zu stürzen?
Doch wenn ich mich so umschaue, fällt mir nicht zum ersten mal auf, welche Schranken diesem eigenen Willen entgegen stehen. Menschen, unsäglich verzweifelt und müde, werden auf erbärmlichste Weise gezwungen, ihrem eigenen Wunsch und Willen über Leben und Tod nachzugehen. Sie springen von Hochhäusern, gehen ins Wasser, werfen sich vor Züge.
Viel wurde geforscht und unternommen, für die „schmerzlose Geburt“. Und der „schmerzlose Tod“? Wem gehört das Recht auf Leben?
Der Gesellschaft? Der Kirche? Dem Partner? Den Kindern? Mir?
Wo bleibt die Freiheit der eigenen Entscheidung, der Selbstbestimmung? Wurde sie uns geraubt, gab es sie nie? Oder rührt sie daher, das nie auf den „Zehnten“ verzichtet werden wollte, egal, unter welchen menschenunwürdigen Lebensumständen sie erarbeitet werden musste – zum Wohl der Höfe.
Ich kann viele Ge- und Verbote verstehen, wenn auch nicht alle, die das Zusammenleben in der Gemeinschaft regelt. Aber wieso lebe ich in einer Gemeinschaft, die mir die Umsetzung meiner eigenen Entscheidung zum Tod derart aufgibt, das meine Verzweifelung erst größer sein muss, als der Wunsch und der Mut zum Leben.
Schon als ich geheiratet habe, hatte ich die Option zur Scheidung. Eine Option zu haben ließ mich in meinem Leben oft erst den Weg gehen, ohne den ich nie den Mut gehabt hätte, ihn zu beschreiten. Es kam auch vor, dass die Option der bessere Weg war. Das ist der Sinn und Zweck einer Option.
Für das Recht auf Selbstbestimmung bis zum Ende
Ich bin fest davon überzeugt, das mit der Option zur Selbstbestimmung über sein Leben, in Form, Art und Weise und Dauer, die Menschen sehr viel sorgsamer umgehen, als die Gemeinschaft meint, sie müsste dieses Recht kollektiv bestimmen und verwalten und sich damit über die Selbstbestimmung und die persönliche Freiheit des Individuums stellen. Ich glaube, die Angst vor dem Alter würde vieles dann verlieren, wenn die Menschen sich nicht so hilflos der Fremdbestimmtheit ausgesetzt sehen, gerade im Alter. Wir haben auf unserem Lebensweg viele Entscheidungen aus freier Wahl getroffen und dann, am Ende des Weges, wenn diese Freiheit nochmals einen ganz besonderen Stellenwert erhält, wird sie uns versagt.
***
CK: Ich danke Menachem (Jg. 1952) für diesen nachdenkenswerten Gastbeitrag! Wer mehr von ihm lesen will, möge sein Blog „Gemeinsam leben“ besuchen, das ich als einen „ruhigen Ort“ im Web gerne aufsuche und schätze.
Diskussion
Kommentare abonnieren (RSS)
4 Kommentare zu „Vom Freitod und den Grenzen der Freiheit“.