Menachem am 07. Januar 2011 —

Unvollkommenheit

In diesem Gastbeitrag, über den ich mich sehr gefreut habe ihn hier veröffentlichen zu dürfen, möchte ich über meine widersprüchlichen Gedanken zur Kunst des Alterns schreiben. Und genau so wenig, wie es eine Antwort auf die Frage nach dem „Sinn des Lebens“ geben wird, so wenig wird es eine Antwort auf die Fragen nach der „Kunst des Alterns“ geben. So banal dies auch klingen mag, ist dies vielleicht meine erste und wichtigste Einsicht. Ein farbenfroher Raum eröffnet sich, in welchem sich Allgemeines und Individuelles zu verbinden sucht.

Und ich bin mir nicht sicher, ob die Kunst des Alterns nicht bereits an dem Tag beginnt, an welchem wir das Licht der Welt erblicken.

Würde, innere Ruhe, Zufriedenheit – wie geht das?

„In Würde alt werden“ war einer meiner Leitgedanken, als ich mit 45 Jahren allem bis dahin gewesenem den Rücken kehrte. Zu meinen bescheidenen materiellen Vorstellungen im Alter fand ich recht bald Klarheit. Aber auf welchem Weg wollte ich meine innere Ruhe und Zufriedenheit finden, und vor allem: wie und mit wem?

Im Laufe der Jahre kamen immer wieder zwei Gedanken zu dieser Frage an mich heran, die wohl einerseits meine volle Einsicht und Zustimmung fanden, doch andererseits enthalten sie bis heute einen immer noch faden Beigeschmack, den zu ergänzen oder erwiedern ich kein Kraut finde.

Um in Würde alt werden zu können gibt es aus meinem persönlichen Lebenslauf heraus noch zwei Zustände, mit denen ich eins werden möchte:

  • In Frieden, Ausgeglichenheit und Ruhe mit mir alleine leben können
  • und bitte sagen können, indem ich als unvollkommener Mensch die Bitte um Hilfe an Menschen richte, ohne Scham und Hilflosigkeit dabei zu empfinden.

Von Liebe und Freundschaft

Wenn ich mein Leben rückbetrachte, so finden sich darin auch die großen Entwürfe von Liebe und Freundschaft. Zwischenmenschliche Beziehungen, die aus meinem in-das-Leben-hineinwachsen immer fern jeder Eigennützigkeit gedeutet wurden. Es war nicht schön, mich nach dem Auseinanderbrechen dieser Vision mit der wirklichen und tieferen Tragfähigkeit meiner Beziehungen auseinanderzusetzen – gleich, ob Männlein oder Weiblein, ob Familie, Arbeit, Freund. Auch wenn es immer von einem Geben und Nehmen gekennzeichnet war, geschah es doch nie aus Uneigennützigkeit.

Mal habe ich die Stärke des Partners gebraucht, mal er meine Schwäche. Mal er mein Geld, mal ich seine Hilflosigkeit. Mal wurde meine Härte, meine Disziplin, meine Scheu gesucht, gebraucht, genutzt – mal genoss ich seinen Ruhm, seine Erotik, seine Bewunderung.

Was der eine nicht hatte, hatte der andere.

Heute denke ich, das ich all dies NICHT von einem anderen Menschen zu meiner eigenen Vervollkommnung brauchen oder gebrauchen möchte. Ist denn dies nicht ein nutzen, ausnutzen oder benutzen? Rückt das nicht schon in die Nähe des missbrauchens?

Eindeutig liegt hier auch mein Wunsch verborgen, selbst nicht als ein Nutzobjekt gebraucht zu werden. Und so frage ich:

Kann man andere Menschen nicht ganz einfach – ohne jeden egoistischen Hintergedanken an seine Inanspruchname im Sinne des eigenen Nutzens – sehen, akzeptieren, bewundern?

Alleine leben können

Wenn ich nicht mit und in mir Zufriedenheit finde, ist die Gefahr groß, dass ich das Fehlende in anderen Menschen suche, um Unvollkommenheit nicht ertragen zu müssen. Deshalb glaube ich, das ich erst im „alleine leben können“ den Frieden mit der eigenen Unvollkommenheit finden kann. Wenn ich darin selbst meinen Frieden finde, finde ich auch den Frieden mit der Unvollkommenheit des Partners.

Und zum bitte sagen können: da glaube ich, das ist wieder einen weiteren Beitrag wert.

***

CK: Ich danke Menachem (Jg. 1952) für diesen nachdenkenswerten Gastbeitrag! Wer mehr von ihm lesen will, möge sein Blog „Gemeinsam leben“ besuchen, das ich als einen „ruhigen Ort“ im Web gerne aufsuche und schätze.

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Diskussion

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10 Kommentare zu „Unvollkommenheit“.

  1. Lieber Menachem,
    ich scheue mich etwas, auf Deinen Artikel zu antworten, weil ich mich nicht hinreichend kompetent fühle.
    Dennoch möchte ich es tun.
    Das Nutzen/Benutzen des Anderen ist für mich unausweichlich. Und auch gar nicht schlimm…und sogar nicht sonderlich beachtenswert, in meinen Augen.
    Man gibt und man nimmt.
    Im Nachhinein eine Beziehung so zu analysieren, daß ein ganz bestimmtes Machtgefüge, eine ganz bestimmte Alliance im Geben und Nehmen stattfand, halte ich für eine Konstruktion.
    NIE würde ich für eine gewesene Beziehung so etwas abgeben wollen, etwas wie: „Die Beziehung bestand im Wesentlichen aus bestimmten Komponenten und Bausteinen“. Sicher ist da immer etwas dran, aber etwas in mir sträubt sich massiv dagegen. Ich möchte nicht, daß wir in einer gewissen Weise „funktioniert“ haben.
    Du schreibst:
    „Eindeutig liegt hier auch mein Wunsch verborgen, selbst nicht als ein Nutzobjekt gebraucht zu werden.“
    Ich denke, da liegt eine frühe Erfahrung dahinter, eine Erfahrung von Benutztwerden – und wenn das so ist, ist das ein mächtiger und berechtigter Schatten.
    Du schreibst: „Wenn ich nicht mit und in mir Zufriedenheit finde..“.
    Da höre ich (als „ebenso“ Nichtvollkommener) heraus, daß Du Dich gerne mit Dir aussöhnen möchtest. Dieses Sichaussöhnen (als ein lebenslanges Anliegen) hat aber nichts, so meine ich mit einer Beziehung oder Nichtbeziehung, sondern mit einem Friedenschliessen in Dir und durch Dich zu tun.

    Danke für das Äussernkönnen meiner Gedanken.

  2. Ich mag deine Art, @Gerhard, wie du auf die Dinge hinweist und sie ausdrückst.
    Manchmal lebe ich schon in dem Gefühl, eine innere Zufriedenheit für mich gefunden zu haben, besonders auch zu meiner Vergangenheit, was aber noch weit davon weg sein kann, auch in Zufriedenheit mit den Menschen zu leben, die um mich sind.

    Als ich nach meiner Insolvenz vor ca. 10 Jahren bei einem ehemaligen Mitarbeiter als Angestellter übernommen wurde, war ich absolut und fest der Meinung, das ich solide Arbeit machte und mich auch gut in das hierarchische System eingefügt hatte. Wir kannten uns sehr lange.

    Als es nach 2 Jahren zum Bruch kam und ich ging, hat er mir das Leben mit Rechtsanwälten und allen Widerlichkeiten zur Hölle gemacht, ein echter Stalker. Ich habe mich lange mit der Frage seines Hasses beschäftigt und kam unter anderm zu dem Schluß, das ich ihn nie wirklich als Vorgesetzten akzeptiert hatte, obwohl ich das niemals mit einem Wort geäußert hätte, mir keine Geste bewusst war, die mich hätte verraten können.
    Ich muss an die apfelanbietende Schlange denken, die in mir sitzt.

    Wenn jemand kommt, und dies oder jenes haben will, materiell oder immateriell, kann man entscheiden. Nicht so, wenn es sich z.B. unter dem Mantel der Liebe verdeckt genommen wird.

  3. Lieber Menachem,
    also ich kann mir für mich nicht vorstellen, daß es ohne innere schwere Konflikte abgeht, vom Vorgesetzten eines Menschen zum Angestellten dieses Menschen zu wechseln. Diese Konflikte müssen eigentlich immer durchscheinen.
    Was genau Dein Vorgesetzter an Hassgründen hat, müsste er für sich ergründen – es wäre spannend, was da rauskäme.
    In Deinem letzten Satz kommt wieder das Thema Benutztwerden hoch. Da sind wir Menschen unterschiedlich sensibel – und reagieren zum Teil heftig auf Verletzungen dieser Art.
    Aber ich denke, „Benutzen“ und „Benutztwerden“ gehört „dazu“ – auch größte Aufmerksamkeit meinem Denken und Handeln gegenüber wird nicht verhindern können, daß ich „benutze“, meinen Vorteil suche. Es ist letztlich ganz gut, wenn man „Bentzen“ gespiegelt bekommt – dann kann man sich besser kennenlernen.

  4. „Kann man andere Menschen nicht ganz einfach – ohne jeden egoistischen Hintergedanken an seine Inanspruchname im Sinne des eigenen Nutzens – sehen, akzeptieren, bewundern?“

    Hätte ich keine Wünsche, keine Erwartungen, kein Begehren, dann gäbe es keinen Grund, morgens aus dem Bett aufzustehen!
    Würde ich von anderen Menschen nichts wollen und nichts brauchen, könnte ich als einsiedelnde Monade für mich bleiben.

    Wir sind aber keine Einzelgänger wie der Bär, sondern Hordentiere wie die Primaten. Also verlangt es mich nach dem Mitmenschen- ja, das geht so weit, dass ein richtiges Glück, eine große Freude nicht befriedigt, wenn sie nicht geteilt werden kann.

    Beziehung ist immer geben und nehmen – selbst dann, wenn es so aussieht, als unterdrücke der eine den anderen und nutze ihn aus. Denn ganz offensichtlich gibt es auch für den „Ausgenützten“ einen Grund, an der Beziehung festzuhalten: einen Nutzen also, und sei er noch so neurotischer Art.

    Und: was in Zeiten glücklichen Miteinanders als teilen, schenken und beschenkt werden, fördern und gefördert werden erscheint, wird dann, wenn das Miteinander ins Negative abgeglitten ist, schon mal aus „ausgenutzt werden“ beschrieben. Wobei der Vorwurf sich dann ja doch auch immer an denjenigen richtet, der ihn erhebt: WARUM habe ich mich ausnutzen lassen? Habe ich mich selbst verleugnet, um mit Geld, Gütern oder „Wohlverhalten“ Zuneigung zu erkaufen?

    Das meine ich ganz allgemein, keinesfalls auf deinen konkreten Fall bezogen, von dem ich zu wenig weiß.

    Was das Chef/Angestellten-Beispiel angeht, bin ich froh, dass das unter Freelancern offenbar besser läuft: Wer das Projekt an Land gezogen hat, hat den Hut auf und zieht andere hinzu – und nächsten Monat kann es andersrum sein.

  5. “Kann man andere Menschen nicht ganz einfach – ohne jeden egoistischen Hintergedanken an seine Inanspruchname im Sinne des eigenen Nutzens – sehen, akzeptieren, bewundern?”

    Könnte ich deine Antwort mit einem „Nein“ interpretieren, @Claudia?
    Wen dem so ist und diese Antwort der Weisheit letzter Schluss ist, wäre das für mich o.K. Keine weitere Suche – und ich würde kein emotionales Problem im Moment darin bei mir sehen – denn die Illusion ist, die verletzt.

    Ich schrieb schon zu Anfang, das dies alles für mich sehr widersprüchlich ist. Ich selbst kann diese Widersprüche nicht lösen, weil ich immer wieder Dinge ausblenden werde, die nicht zu dem Ergebnis führen, das ich gerne sehen würde.

    Und das Beispiel von oben scheint mir jetzt im Nachhinein auch nicht zufällig gewählt. Die Zeit als Angestellter bei einem ehemaligen Mitarbeiter war für mich das Schlüsselerlebniss. Auf der anderen Seite des Schreibtisches sitzend, jetzt selbst in der Rolle des Gauklers, dem es nur um eins geht: Den pünktlichen Gehaltseingang.

    Ja, das gebe ich zu, @ Gerhard, das hat mich tief verletzt, das ich das 20 Jahre selbst als der Aussteller der Gehaltsschecks nicht sehen konnte und wollte. Doch deswegen fühle ich mich nicht nachtragend. Die Blindheit meines eigenen nicht sehen könnens, kann ich keinem Anderen zum Vorwurf machen und tue ich auch nicht.

    Ich sage es einmal überspitzt:
    Es geht mir nicht darum, was Andere machen. Das müssen sie mit sich ausmachen. Es geht um MEIN handeln, weil ich möchte das anderen Menschen nicht antun und so wäre die Frage vielleicht anders zu stellen, da schon ganz oben ein „Nein“ steht:

    Wo fängt „brauchen“, wo fängt „missbrauchen“ an, und sind wir überhaupt in der Lage, die Unterschiede oder Übergänge selbst zu erkennen?

  6. […] “zur Kunst des Alterns” zu schreiben, der daraufhin einen wunderbaren Beitrag zum Thema “Unvollkommenheit” beigesteuert hat – danke […]

  7. Lieber Menachem,
    ich möchte keine Antwort bzw. Reflexion auf Dein Gesagtes auslassen, deshalb meine späte Antwort..
    Du sagst: „Es geht um MEIN Handeln.“ Du möchtest also jemand nicht um Deines Vorteils willen „beanspruchen“.
    Ich meine, daß, wenn es bewusst ist und „schäbig“, dann ist es in der Tat zu verwerfen.
    Aber viele andere Dinge sind nicht zu verwerfen. Wenn ich etwa glänzen kann mit einer intelligenten Frau an meiner Seite, einer Künstlerin oder einer Bekanntheit und dies nicht alles ist, was meine Beziehung ausmacht, dann kann ich es doch gelten lassen und muß mich deswegen nicht krämen.
    Ich denke, Du setzt die Messlatte für Dich so hoch, weil, um es nochmal (penetrant) zu wiederholen, Du in dieser Beziehung in Deiner Kindheit verletzt worden bist.
    Dies gilt es m.E. zu würdigen.

  8. Das Thema wird mich noch eine zeitlang begleiten, geht es um grundsätzliches, widersprüchliches, auch, aus Kindheit.

    Selbstloses, uneigennütziges handeln, ein Gedanke dazu:
    http://gemeinsamleben.wordpress.com/2011/01/13/wissen-ist-macht/

    Was macht die Sache so widersprüchlich?
    Ein Verhaltenscodex, der mir in Kindheit immer wieder in Erinnerung gebracht wurde, war:
    „Sei nicht so egoistisch.“ und
    “ Denk bitte auch an die Anderen!“

    Nun glaube ich, das wir biologisch rein egoistisch gepolt sind und dieses Prinzip auch in menschlichen Gemeinschaften gilt, wenn auch oft nur verdeckt.
    Anderseits haben wir uns Verhaltensmodelle geschafften, ob Moral oder Christentum.., die dieses Prinzip als nicht vorhanden ausklammern bis zum verklären und leugnen.

    In meinen Fragen zur Authenzität komme ich unweigerlich zu der Kreuzung, welchem der beiden Wege ich folgen möchte.
    Für beides unter einen Hut zu bekommen sehe ich mich im Moment, der vielen Gegensätzlichkeiten wegen, noch nicht in der Lage.

    Einer dieser Fragen habe ich hier gestellt, ob un-eigennütziges handeln möglich ist, so, wie es die Religionen lehren wollen.

  9. Lieber Menachem, ich sehe, daß der Begriff „Egoismus“ für Dich sehr vergiftet ist.
    Eine stetig und ständig zu treffende Abwägung, was „purer“ Egoismus ist und was „gesunder“ Egoismus ist, halte ich für nicht erstrebenswert. Ich verwirkliche mich in dieser Welt und achte auf die Grenzen anderer. So manches werde ich auf dem Weg übersehen, das ist im Bereich der Möglichkeiten. Aber das ist m.E. nicht weiter schlimm, wenn ich mich im Großen und Ganzen vernünftig verhalte.
    Dein Dir beigebrachter Verhaltenskodex, der ist es, der in Dir arbeitet. Dieser Kodex scheint auch gegen „natürliche Impulse“ zu arbeiten. Und weil „natürliche Impulse“ natürlich sind, ist ein steter Kampf die Folge.
    Ansetzen muß man also am rigiden Regime in einem, aber nicht in der Einzelarbeit, etwa „darf ich dieses, darf ich jenes“, sondern ganz generell, im Betrachten und Durcharbeiten der Kindheit, so meine ich.

  10. Du bist nicht der erste, @Gerhard, der mir in diesen Gedanken eine etwas rigide Haltung zuspricht. Ich möchte aber diese Seite hier nicht überstrapzieren und versuchen, dies noch mal auf meiner eigenen Seite zu erweitern.
    Mir ist eine intensive Auseinandersetzung wichitg, zwischen widersprüchlichen „natürlichem Impuls“ und „Verhaltenscodex“, mit denen sich auch schon Nietzsche und Freud rumgeschlagen haben, und so glaube ich, macht man es an greifbaren Themen fest, wie es bei der „Monogamie“-Diskussion auf Claudia`s Seite geschah, interessante Aspekte zur Diskussion kommen.

    Ich danke dir, @Gerhard, für dein Einlassen und erkenne dabei auch nochmals, das ich nur Neues in mich hineinlassen kann, wenn ich mich auch „Öffne“.